Leserbrief

Wie schön ist es in Ignoranzia – Zur Diskussion über die L 419 im Wuppertaler Stadtrat

Ausgabe 25 vom 25. Juni 2023

Der SPIEGEL-Autor Markus Feldenkirchen spricht in einem aktuellen Beitrag von einem „informationsaversen“ Teil der Bevölkerung. Zumindest bezogen auf den Diskurs über den autobahnähnlichen Ausbau der L 419 in Wuppertal muss man Klaus-Jürgen Reese, denVorsitzenden der SPD-Fraktion im Wuppertaler Rat, und seinen Parteifreund Sedat Ugurman, den verkehrspolitischen Sprecher der Wuppertaler SPD-Fraktion und Vorsitzenden des Verkehrsausschusses, wohl dazurechnen.
Anlass hierfür sind Einlassungen der beiden Lokalpolitiker in der Diskussion über eine mögliche Resolution der Stadt Wuppertal gegen den autobahnähnlichen Ausbau der L 419 und für einen Stopp des Planfeststellungsverfahrens bei der Stadtratssitzung am 13. Juni.
Wie man lesen konnte, wurde die Ronsdorfer Bezirksvetretung, die kürzlich eine entsprechende Resolution verabschiedet hat, von Klaus-Jürgen Reese schnöselig abgekanzelt. Von ihm wie von seinem Parteifreund wurde der Bezirksvertretung eine NIMBY-Haltung („Not in my backyard“), zu Deutsch: eine Orientierung am Sankt-Florians-Prinzip unterstellt.
Sein Eintreten für das Projekt wurde von Sedat Ugurman durch die Mitteilungen untermauert, der Ausbau entlaste die A 46 und den Stadtteil Ronsdorf und biete Vorteile für die Wirtschaft. Das letzte Argument ist eher eine Plattitüde, das erste und das zweite Argument sind falsch, auch wenn sie sich ebenfalls in der Vorhabensbeschreibung auf der Website des zuständigen Landesbetriebs Straßenbau Nordrhein-Westfalen (Straßen NRW) finden, die Sedat Ugurmann möglicherweise zitiert hat.
Wer sich über das Vorhaben fundiert informieren möchte, hat hierzu gute Möglichkeiten. Die dafür erforderlichen Unterlagen sind allgemein zugänglich: Die umfangreichen Planfeststellungsunterlagen finden sich auf der Seite der Stadt Wuppertal unter https://www. wuppertal.de/wirtschaft-stadtentwicklung/planverfahren/unterlagen-2l419.php. Besonders zu empfehlen ist die Beschlussvorlage der Stadt Wuppertal zum Planänderungsverfahren für den Ausbau der L 419 zwischen Lichtscheid und Erbschlö (1. Bauabschnitt), im Ratsinformationssystem Wuppertal als Unterlage zur Ratssitzung am 16.12.2019 gespeichert. Detailreich ist die Stellungnahme des Ronsdorfer Verschönerungsvereins zum Planfeststellungsentwurf unter http://ronsdorfer-verschoenerungsverein.marxboehmer.de/wp- content/uploads/ 2019/12/ RVV_Einwand_181119-1.pdf.
Wie die nachfolgenden Überlegungen zeigen, muss man nicht in alle inhaltlichen Verästelungen vordringen, um zu einer Position zu gelangen. Zum Verständnis der Argumentation sollte man wissen, dass in den Verkehrsuntersuchungen, deren Ergebnisse eine zentrale Planungsgrundlage darstellen, die Auswirkungen eines Ausbaus anhand von vier Szenarien ermittelt wurden. Dabei wurde der als „Ist-Zustand“ angenommene „Analysefall“ 2017 mit drei Zuständen im Jahr 2030 verglichen: dem Prognose-Nullfall, in dem kein Ausbau stattfindet, und zwei Prognose-Planfällen, die sich auf den ersten und auf den zweiten Bauabschnitt beziehen. Für den ersten Prognose-Planfall wird die Fertigstellung des ersten Bauabschnitts bis zur Erbschlöer Straße angenommen, im zweiten Prognose-Planfall ist der Anschluss an die A 1 erfolgt.
Hier eine kurze Einordnung der fünf Kernargumente, die für einen Ausbau vorgebracht werden (alle Zahlen zur Verkehrsentwicklung aus der erwähnten Stellungnahme der Stadt Wuppertal):

  1. Der Bedarf, die L 419 autobahnähnlich auszubauen, wird vor allem aus der bis 2030 erwarteten Verkehrszunahme abgeleitet. Die Darstellung des Vorhabens auf der Website von Straßen NRW suggeriert sogar, dass ohne diesen Ausbau bereits das gegenwärtige Verkehrsaufkommen nicht mehr ohne Staus bewältigt werden könne. Tatsächlich belegt die Verkehrsuntersuchung, dass sich die hohen Verkehrszunahmen auf verschiedenen Straßenabschnitten erst mit dem Ausbau (Prognose-Planfall) einstellen.
    Der Anstieg bis 2030 ohne Ausbau (Prognose-Nullfall) gegenüber dem „Ist-Zustand“ 2017 wird von der Stadtverwaltung zu Recht als moderat bezeichnet und rechtfertigt den geplanten Ausbau nicht. Beispielsweise steigt auf dem 3. Straßenabschnitt Staubenthaler Straße – Erbschlöer Straße die Zahl der Fahrzeuge pro Tag von 28.200 im Ist-Zustand 2017 auf 29.500 im Prognose-Nullfall 2030. Im Planfall erhöht sich die Zahl zunächst auf 34.800 (1. Bauabschnitt) und dann auf 46.100 (2. Bauabschnitt). Anders ausgedrückt: Das Problem (Bewältigung einer hohen Verkehrszunahme) wird durch die Lösung (autobahnähnlicher Ausbau) erst geschaffen.
  2. Allerdings ist ein hohes Verkehrsaufkommen auf der L 419 durchaus gewollt, da die zentrale Aufgabe der L 419 zusammen mit der L 418 ja darin besteht, die A 46 zu entlasten. Doch erfüllt die ausgebaute L 419 diese Funktion? Die Stadtverwaltung konstatiert, dass die Veränderungen der Verkehrsbelastung auf der A 46 bis 2030 sowohl mit als auch ohne Ausbau marginal seien. Die Verkehrsmengen auf der A 46 bewegen sich im Bereich Elberfeld in den untersuchten Fällen (Analysefall 2017, Prognose-Nullfall und Prognose-Planfälle 1. BA und 1./2. BA 2030) zwischen 82.000 und 84.000 Fahrzeugen. Die ihr zugeschriebene Aufgabe würde die L 419 bei Realisierung des geplanten Ausbaus also nicht erfüllen.
  3. Für die von manchen Ronsdorfer*innen und auch von Straßen NRW („Die Straßen in Ronsdorf haben als Schleichrouten ausgedient.“) als Argument für einen autobahnähnlichen Ausbau angeführte verkehrliche Entlastung des Ronsdorfer Stadtgebiets gibt es keine überzeugenden Anhaltspunkte. Eher ist das Gegenteil plausibel. Allerdings sind solche lokalen Wirkungen bei einer überregionalen Planung ohnehin allenfalls ein Nebenaspekt und gehören nicht zum primären Zielkatalog.
  4. Kollateralschäden sind durch eine Maßnahme verursachte Schäden, die man nicht beabsichtigt, ja sogar gerne vermeiden würde, die aber zu Gunsten der Verwirklichung eines höheren Zieles als gerechtfertigt betrachtet werden. Ein autobahnähnlicher Ausbau der L 419 hätte eine Vielzahl solcher Kollateralschäden zur Folge, insbesondere für Umwelt, Klima, Verkehr und Lebensqualität im Stadtteil, nachzulesen u.a. in der Stellungnahme des Ronsdorfer Verschönerungsvereins. Wenn jedoch das angestrebte Hauptziel „Entlastung der A 46“ nicht erreicht werden kann, fehlt logischerweise auch die Legitimation für die Kollateralschäden.
  5. Die Argumentation der Befürworter*innen eines autobahnähnlichen Ausbaus der L 419 legt die Vorstellung nahe, nur durch diesen Ausbau sei eine Verbesserung der Verkehrsverhältnisse im Bereich der L 419 zu erzielen. Dieses binäre Denken entspringt dem auch in der Wuppertaler Politik und Stadtgesellschaft seit längerem zu beobachtenden Hang zur Polarisierung, die zu einer Verengung der Lösungsräume für festgestellte Probleme führt. Ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Diskussion über mögliche Lösungen werden „dritte Wege“ (hier bewusst im Plural) nicht mehr in Betracht gezogen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die vor einigen Jahren geplante Seilbahn zwischen Hauptbahnhof und Küllenhahn, bei der dem Nachdenken über alternative Lösungen kein Raum gegeben wurde. Das – tatsächliche oder vermeintliche – Problem, die fehlenden Beförderungskapazitäten im ÖPNV zwischen Hauptbahnhof und Uni, das mit dem Seilbahnbau gelöst werden sollte, wartet nach der Ablehnung des Projekts durch die Wuppertaler Bevölkerung bis heute auf seine Bearbeitung. Im Falle des Ausbaus der L 419 treten Grüne und wohl auch Linke für eine Ertüchtigung der L 419 ein. Angesichts des erwähnten, lediglich moderaten Verkehrszuwachses erscheint eine Ertüchtigung durchaus als realistische Option, die Verkehrsverhältnisse auf der L 419 deutlich zu verbessern.
    Wenn die dargestellten Gedankengänge richtig sind, bedeutet dies, dass es für die laufende Planung keine verkehrliche Begründung mehr gibt. Ein autobahnähnlicher Ausbau der L 419 wäre absurd und geschähe wider besseres Wissen.
    Der Ausbau ist der Nachhall einer früheren Planung, deren Anfänge bis in die sechziger Jahre zurückgehen. Die Begründung für die Exekutierung des Ausbaus liegen inzwischen sozusagen im Vorhaben selbst: Weil irgendwann mal in einer bestimmten Situation ein Bedarf festgestellt wurde und weil es einen rechtmäßigen Planunsprozess gab, soll nun die Planung auch umgesetzt werden. Was einmal materiell erreicht werden sollte, spielt anscheinend keine Rolle mehr.
    Die zitierten Äußerungen von Klaus-Jürgen Reese und Sedat Ugurman können grundsätzlich zweierlei bedeuten: Entweder kennen sie die Fakten nicht, dann ignorieren sie ihre Informationspflicht und haben ihre Arbeit nicht getan, oder sie kennen die Fakten, aber ignorieren sie. In beiden Fällen werden sie ihrer politischen Verantwortung nicht gerecht.
    Klaus Jürgen Reese ist dem Verfasser von einem Mitglied der Wuppertaler SPD-Fraktion einmal als „Aktenfresser“ und stets außerordentlich gut informiert geschildert worden, gleichsam als lokale Version des prominenten Sozialdemokraten Hans-Jochen Vogel.

Vielleicht sieht man also demnächst in der Sommerpause in einem Biergarten an der Wupper irgendwo in einer Ecke Klaus-Jürgen Reese und Sedat Ugurman sitzen, vor sich auf dem Tisch einen Laptop, und gemeinsam die Planungsunterlagen lesen, die es zum Ausbau der L 419 gibt. Aber das ist natürlich nur wilde Phantasie.
Weil das so ist, bleibt ein Erschrecken zurück, auf welcher Grundlage im Stadtrat Entscheidungen getroffen werden können, Entscheidungen, die nicht nur für die politischen Entscheidungsträgerinnen gelten, sondern, leider, auch für die anderen rund 350.000 Wuppertalerinnen.

Georg Wilke
Elfriede-Stremmel-Str. 53
42369 Wuppertal

Leserbriefe geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion wieder. Der Verlag behält sich das Recht auf Kürzung vor. Anonyme Zuschriften können nicht berücksichtigt werden.

Anzeigen