KW04 | 28.01.2024

Beitrag auf der Demonstration am 19.01.2024 in Wuppertal

„Für Freiheit und Demokratie“ von Pfarrer Dr. Jochen Denker

Am Freitag, dem 19. Januar, gab es die Kundgebung der Stadtverwaltung auf dem Geschwister-Scholl-Platz in Barmen, bei der Pfarrer Denker eindringlich mahnte, die Demokratie zu schützen. (Foto: privat)

„Das wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde. … (Sie) traten als Abgeordnete in den Genuss der Immunität, der Diäten und der Freifahrkarte. …Aus der demokratischen Dummheit ließ sich vortrefflich Kapital schlagen.“ Aus: „Die Dummheit der Demokratie“. Das Zitat ist 89 Jahre alt und stammt von Joseph Goebbels.
Ob die Demokratie – ob wir – 90 Jahre später klüger geworden sind, wird sich zeigen. Nicht erst in den nächsten Jahren und an den Wahlurnen, sondern jetzt!
Wofür treten wir ein? Wo zeigen wir Gesicht? Was lassen wir unwidersprochen?
Das Geheimtreffen in Potsdam im letzten November, das jetzt in aller Munde ist, hat noch einmal deutlich gemacht, dass es wirklich um „Alternativen“ geht. Dank an den unabhängigen Journalismus! Ich lege jedem das Youtube-Video von der Inszenierung des Treffens im Berliner Ensemble vorgestern ans Herz!
www.youtube.com/watch?v=kJMQODymCsQ
Erkennbar steht die Demokratie zur Wahl, weil antidemokratische Kräfte sich anschicken, die Parlamente zu erobern und unser Land nach ihren Vorstellungen umzubauen. Kopfschüttelndes Schweigen im stillen Kämmerlein ist jetzt zu wenig. Wer eine andere Republik will, soll sehen, wer sich gegen ihn stellt. Und wer weiter in einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat und einer offenen Gesellschaft leben will, muss die Stimme erheben.
Deshalb sind wir heute hier. Für mich geht es um die Frage: „Wie wollen wir leben?“ Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der eine unselige Rassenideologie wieder um sich greift.
Die offengelegten „Deportations- und Vertreibungspläne“ und die Menschenverachtung, die darin zum Ausdruck kommt, widern mich an. Die offenen Gewaltandrohungen be­­sonders gegen Antifaschisten und Linke auch.
Ich möchte in einem Land leben, in dem der Einsatz für Geflüchtete nicht unter Strafandrohung steht, sondern gewollt und gefördert wird.
Ich möchte in einem Land leben, in dem ich meinen Glauben leben darf – nicht unwidersprochen, aber frei.
Ich möchte in einem Staat leben, der mich vor jeder Religion und jeder politischen Ideologie schützt, die Menschen ihre Daseins- und Existenzrecht absprechen will – in einem Land ohne Antisemitismus und Rassismus.
Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der alle allen Menschen die gleiche Würde zuerkennen.
Ich möchte in einem Staat leben, der keinen totalitären Anspruch auf mein ganzes Leben erhebt,
o in dem die Gewalten bewusst geteilt sind,
o es keine Gestapo-Strukturen gibt,
o in dem eine Regierung kontrolliert wird und abgewählt werden kann und eine neue an ihre Stelle tritt und trotz allem das Grundgesetz seine Gültigkeit behält.
Ich möchte in einem Land leben, in dem jeder und jede lieben darf, wen er oder sie nun mal liebt, wo Vielfalt als Gewinn gesehen wird, auch wenn sie Spannungen erzeugt.
Ich möchte in einem Land leben, in dem die Starken die Schwachen mittragen, in dem dazu finanzielle Mittel in ausreichendem Maß bereitgestellt werden, in dem Menschen Verantwortung füreinander übernehmen und Solidarität und Gemeinsinn etwas zählen.
Das alles steht zurzeit in Frage und wird bedroht!
Weltweit geraten demokratische Institutionen unter Druck. Autokratien breiten sich aus. Deshalb frage ich: Ist es etwa erstrebenswert in politischen Verhältnissen zu leben, wie sie in Russland, China, Ungarn oder der Türkei herrschen und unter Trump vielleicht bald wieder in den USA?
In all diesen und anderen Ländern sehe ich eine Clique Herrschender, die sich die Taschen vollstopft, Institutionen korrumpiert, Gerichte manipuliert, sich selbst Straffreiheit verschafft und Millionen von Menschen für ihre Machtfantasien missbraucht.
Opposition wird kleingehalten und weggesperrt. Es herrscht ein Klima der Angst und viele haben Grund, sich zu fürchten. Wollen wir so leben? – Ich nicht!
Und ich will nicht glauben, dass alle die, die jetzt der AfD ihre Zustimmung geben, das wollen.
Darum gilt es aufzuzeigen, um welche Alternativen es wirklich geht. Die Zeit, in der die AfD als Protestpartei gelten konnte, die alle, die aus gutem oder auch weniger gutem Grund mit der Regierungspolitik unzufrieden sind, sammelte, ist vorbei.
Wer heute noch aus Protest diese Partei wählt oder unterstützt, wird morgen ein böses Erwachen erleben.
Aber auch wer heute mit antidemokratischen Kräften gemeinsame Sache macht, weil er denkt, so die eigenen Interessen durchsetzen zu können, wird sich wundern.
Darum mein dringender Appell an alle, die in den Parlamenten und Parteien Einfluss haben: Wenn es um die Demokratie geht, müssen parteipolitische Interessen zurückstehen.
Dass etwa in Thüringen nun kaum mehr ein Windrad gebaut werden kann, mag dem einen oder anderen gefallen – aber zu welchem Preis?
Wir wissen alle, dass Politik in einer parlamentarischen Demokratie ein „Geben und Nehmen“ ist. Welchen Preis wird die AfD wohl bald aufrufen?
Allen demokratischen Parteien muss klar werden: Keine Mehrheitsbeschaffung durch Antidemokraten in den Parlamenten. Mehrheiten müssen ausschließlich im demokratischen Spektrum gesucht werden. Findet man die nicht, dann sollte man das eine oder andere gar nicht zur Abstimmung stellen.
Das ist in dieser Schärfe eine neue Herausforderung für die Politik.
Vergessen wir in den politischen Debatten und Gesprächen nicht, dass es ein Pyrrhus-Sieg ist, wenn sich die Zustimmung zu den Regierungsparteien halbiert, aber antidemokratische Kräfte in Umfragen einen Höhenflug antreten.
Das ist nicht nur Ergebnis einer unerklärlich zerstrittenen Regierungspolitik, sondern auch einer politischen Auseinandersetzung, die mit populistischen Parolen geführt wird.
Das muss aufhören!
Befeuert nicht weiter die grassierende Empörungskultur! Nicht in den Parlamenten, nicht auf Demonstrationen und nicht in den Medien.
Die Lage ist zu ernst.
Empörung, reine Emotionalisierung, die nur auf grölenden Beifall setzt und der Wahrheit und Tatsachen gleichgültig werden, sind Antriebsriemen von Populisten.
Wenn wir alle, die sich zur Zeit im Dunstkreis der AfD orientieren, weil sie sich von den Entwicklungen der letzten Jahre überfordert oder überrollt fühlen, pauschal „Rassisten“ nennen und für die Demokratie verloren geben, arbeiten wir denen zu, die unsere Gesellschaft destabilisieren wollen.
Gestern Abend lief eine Dokumentation über Aussteiger aus der AfD im Ersten Deutschen Fernsehen, die mich sehr nachdenklich stimmt.
Was ich daraus mitgenommen habe, ist die Erkenntnis, dass eine Radikalisierung gerade auch dadurch voranschreitet, dass man sozial außerhalb der eigenen Blase isoliert wird.
Geben wir die, die uns sagen, dass sie mit der AfD sympathisieren, nicht auf.
Es gibt die, die für die Demokratie „verloren“ sind, weil sie sie wirklich nicht wollen und hoffen, in einer anderen Republik zu den Gewinnern zu gehören.
Aber das sind bei weitem nicht alle. Und ich will nicht glauben, dass es über 20% unserer Bevölkerung sind, mit gar noch steigender Tendenz.
Meine Hoffnung ist, dass die Enthüllungen der letzten Tage vielen die Augen öffnen, wohin der Zug fährt. Und ich hoffe, dass wir mit denen, die nachdenklich werden, ins Gespräch kommen und keine Mauern bauen.
Ich wünsche mir eine wehrhafte Demokratie. Alle Voraussetzungen dazu haben uns unsere Eltern und Großeltern mit dem Grundgesetz an die Hand gegeben. Sie haben unserem Staat eine Basis hinterlassen, die nach dem Terror der Nazizeit und dem unbeschreiblichen Schrecken des Krieges ein Fanal für Mitmenschlichkeit, Freiheit und Solidarität war und ist.
Sie haben dem Rechtsstaat auch Zähne gegeben, mit denen er die freiheitliche Demokratie verteidigen kann und soll.
Manche dieser Werkzeuge werden zurzeit diskutiert. Vom Entzug des Rechtes auf politische Betätigung für Politiker, die verfassungsfeindlich aktiv sind, bis zu Vereins- oder Parteiverboten.
Auch hier ist klug zu überlegen, was hilft und was nicht. Allein – tatenlos darf unser Rechtssaat nicht bleiben. Langmut ist eine Tugend, aber sie kann auch verantwortungslos sein. Noch wichtiger aber als juristische Mittel sind, dass die bislang eher schweigende Mehrheit ihre Stimme erhebt.
Die Demokratie geht nicht an ihren Feinden zugrunde, sondern an zu wenigen oder schlafenden und stummen Freundinnen und Freunden.
Nie wieder – ist jetzt!
Nie wieder schlafen und warten, bis es zu spät ist. Suchen und schaffen wir Foren, auch neue, in denen wir über die wirklich komplexen Probleme unserer Tage sprechen.
Sagen wir ehrlich, was nicht funktioniert. Was wir gerne schaffen würden, aber so, wie wir es bisher angepackt haben, nicht schaffen.
Sprechen wir über Integration, die auch deshalb nicht gelingt, weil wir die Lebensleis­tung Geflüchteter nicht anerkennen, nicht ihre Ausbildung, nicht ihre Führerscheine, eigentlich nichts.
Wir machen sie zu Bittstellern und werfen es ihnen dann vor.…
Sprechen wir über die Überforderung in unseren Schulen, über soziale Ungerechtigkeit, über notwendige Veränderungen in unserem Wirtschaften und darüber, wie wir miteinander leben wollen. In einer Demokratie können wir das.
Nutzen wir unsere Möglichkeiten!

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